Johann Carl Passavant

 

Vom freien Willen des Menschen in der Gemeinschaft mit anderen Menschen

Johann Carl Passavant

Johann Carl Passavant

(1790-1857)

 


 

1. Von der Solidarität unter den Menschen

 

Bisher betrachteten wir den einzelnen Menschen in den Momenten seiner Entwicklung und seiner Regeneration. Die Freiheit, mit welcher er sich auf beiden Wegen bestimmt, sahen wir weder gefährdet durch sein Verhältnis zu Gott, noch zu anderen freien Wesen, noch zur Natur. Alle Einwirkungen auf seinen Willen erkannten wir vielmehr als die Freiheit des Menschen ursprünglich fördernd und vermittelnd. Nur durch eigene Schuld verwandelten sich die befreundeten Mächte in seine Feinde, und nur durch seine Freiheit ward er unfrei. Allein seinem selbstbestimmenden Willen war es auch übergeben, daß er unter göttlicher Mitwirkung aus dem Gebundensein und der Not wieder zur Freiheit zurückkehre. Die Hemmungsmittel wurden ihm zu Befreiungsmitteln in der von Gott gesetzten Weltordnung. In jedem Momente kann er würdig handeln oder würdig leidend seine Bestimmung erfüllen.

Wir haben nun noch einige Blicke auf den Prozeß der Entwicklung und Befreiung zu werfen, sofern der Mensch in Gemeinschaft mit anderen lebt und selbst als Teil eines höheren Ganzen erscheint. Wir heben hier nur diejenigen Punkte hervor, wo im gemeinschaftlichen Dasein des geselligen Lebens der freie Wille des Menschen noch eigentümliche und gemeinsame Aufgaben zu lösen hat.

Wie in den organischen Bildungen die verschiedenen Formen nur im Zusammenhange als ein gemeinsames architektonisches Werk zu begreifen sind, wie die Entwicklungsstufen der organischen Körper nur in den vorhergegangenen und darauf folgenden ihr Verständnis finden, wie Bildungen und Funktionen oft in einer niederen Gattung nur angedeutet sind, welche in einer höheren erst völlig entwickelt vorkommen; so ist auch das Reich der Freiheit unverständlich, wenn man nicht das ergänzende Zusammenwirken in der Gesellschaft und die Entwicklungsstufen in der Geschichte vor Augen hat. Manches Ereignis und manche Tat, welche einzeln betrachtet als zufällig oder zwecklos erscheint, wird im Zusammenhange der Weltgeschichte als notwendig und zweckmäßig erkannt.

Die Menschheit hat als Ganzes ihre eigene Physiologie und Psychologie. Sie ist nicht bloß ein Verein, sondern eine Einheit. Die organische Einheit spricht sich z. B. in dem immer gleichen Verhältnis neugeborener männlicher und weiblicher Individuen aus, welches trotz der Verschiedenheit des Klimas und der Lebensweise nicht wechselt. Ebenso in der oft beobachteten Tatsache, daß nach verheerenden Seuchen die Zahl der Geburten verhältnismäßig größer ward. Den innigen geistigen Zusammenhang beweist das gemeinsame Ergriffenwerden von gleichen Gedanken bei verschiedenen Menschen zu derselben Zeit. Fast nie sind große geistige Bewegungen der Massen oder große Erfindungen von einem Menschen allein ausgegangen. Die den Namen dazu leihen, sind oft mehr die Verkünder, die Herolde des in vielen wirkenden, auch an Entwicklungsstufen gebundenen Geistes. In dem Bereich der Geister herrscht noch eine größere Gemeinschaft als in dem der Natur.

So trägt jeder Mensch die Frucht des guten oder bösen Samens, den andere neben ihm oder vor ihm gesät haben. Der Unschuldige leidet mit dem Schuldigen, der Gerechte mit dem Ungerechten, und oft mehr als dieser, schon deshalb, weil er außer dem physischen Übel das moralische tiefer empfindet.

Dies ist das furchtbare Gesetz der Solidarität, in welchem jeder mit seiner Familie, seinen Genossen, seinem Volke, mit der Menschheit verknüpft ist und wie das Glied eines Leibes mit den anderen Gliedern und durch dieselben leidet.

Wie verträgt sich diese allgemeine Tatsache mit der Freiheit des einzelnen und mit der allgemeinen Weltordnung?

Wenn wir nach dem früher Gesagten bei jedem Menschen und der Menschheit im ganzen eine ursprüngliche, unserem erscheinenden Dasein vorausgehende freie Tat annehmen, so ist der Zusammenhang einer solchen Richtung gebenden Tat mit allen Ereignissen des Lebens ohnehin nicht mehr unbegreiflich.

Jedenfalls erscheint uns jene Solidarität als eine aufzulösende Disharmonie in der Geschichte. Nur vor ihrer Auflösung betrachtet, erzeugt sie jene verzweifelnde, Gott anklagende Weltansicht, die in Byron ihren Dichter fand.

Könnte der einzelne Mensch nur die Frucht seiner eigenen Tat ernten, nur die Güter genießen, die er allein erwerben kann, sein Glück wäre ein enges, sein Dasein ein verarmtes. Glücklich und reich ist er nur dadurch, daß er für andere und in anderen lebt. In dem Grade, als er als Glied eines geistigen Organismus mit anderen Gliedern desselben ein gemeinsames Leben führt, in der Familie, im Staate, im Kreise der Freunde und endlich in der Gemeinschaft aller vernünftigen Wesen, in dem Grade erreicht er ein höheres, universaleres Dasein. Da nun der Mensch berufen ist, nicht bloß zur Fortbildung, sondern auch zur Regeneration seines Geschlechts ein Mitarbeiter zu sein, so nimmt er auch auf diesem dornigen Wege an den Leiden anderer teil. Aber in dem Maße, als er mit hingebender Liebe für diese handelt und leidet, befähigt er sich auch, am Ziele an ihren erworbenen Gütern, an der gemeinsamen Ernte teilzunehmen. Die Mutter, welche mit opfernder Liebe jahrelang ihr krankes Kind gepflegt, erfreut sich am meisten seiner Genesung. Wer schuldlos mit dem Schuldigen leidet, wer selbst den Fluchenden segnet, der bekommt ein Recht an denselben, das Recht, die geistige Genesung desselben wie seine eigene zu empfinden, vielleicht das Recht, sie mit herbeizuführen. Hierin liegt die tiefe, zugleich tröstliche Bedeutung des unschuldigen Leidens, besonders des für andere frei übernommenen; und auch das auferlegte kann durch mutige Ergebung zum frei erwählten erhoben werden. So löst die Liebe die Disharmonie auf, welche die Solidarität erzeugt.

Ein anderes sittliches Rätsel in der Geschichte, das mit der Solidarität nahe verwandt ist, ist die Tatsache, daß häufig die besten Kräfte ausgezeichneter Menschen, nachdem sie mühevoll entwickelt wurden, für das allgemeine Wohl unbenutzt bleiben oder bald in ihrer Wirksamkeit gehemmt werden. Die reinsten Bestrebungen, die edelsten Opfer erreichen so selten ihren Zweck auf Erden, und wo der Tod oder äußere Gewalt nicht der höheren Entfaltung die Grenze setzt, wird der Geistesflug der Besten oft plötzlich gelähmt, den Tagen froher Begeisterung und rastloser Tätigkeit folgt häufig ein Gefühl geistiger Gebundenheit. Wenn Columbus im engen Kerker büßen muß, daß er die Grenzen der Welt erweitert hat, so weint Newton im Alter, daß er die Schriften seiner Jugend nicht mehr versteht. Der allgemeine Ostrazismus, mit welchem die Menschen und das Schicksal selbst die edelsten Geister aller Jahrhunderte so oft aus ihrem schönsten Wirkungskreise verbannten, und der dem Leben dieser Repräsentanten der Menschheit meist einen so tragischen Charakter gibt, findet in dem Entwicklungsgesetze des Menschen sein Verständnis. Denn er hat Zustände innerer Bildung, nicht bloß äußerer Wirksamkeit zu durchgehen.

Die erste Periode unseres Daseins, das Leben des Fötus, ist nur der Bildung der Organe gewidmet, und die Außenwelt ist demselben noch ganz verschlossen. Im Schlafe wiederholt sich das nach innen gekehrte Leben des Fötus. Es ist Bedürfnis des Körpers, daß seine Verbindung mit der Außenwelt, welche durch Bewegung und Empfindung vermittelt wird, wiederholt unterbrochen werde. Außer dieser regelmäßigen Einkehr des Lebens im Schlafe wird auch die Kraft des Organismus bei neuen Entwicklungen oft nur zur inneren Bildung verwandt. In der organischen Natur ist jede neue Entwicklung eine Enthüllung, eine Häutung. Die Eihäute gehen in den Tod, damit der Neugeborene eine höhere Stufe des Daseins erringe. Bei der Häutung der Schlangen, dem Mausern der Vögel, dem Zahnen der Säugetiere findet eine noch teilweise Wiederholung der ersten Metamorphose statt. Die Übergangsmomente sind oft mit Kraftverlust, mit Abspannung und Schmerz verbunden. Das Leben wird zum Teil latent, weil das verbrauchte Organ abstirbt und das neue noch nicht vollendet ist. Die Kräfte werden auf die innere Bildung, nicht auf die äußere Tätigkeit verwendet.

Dasselbe Gesetz der Metamorphose gilt nun für den menschlichen Geist bei seiner zeitlichen Gebundenheit an die Natur. Ein Teil seiner Kraft wird nur nach innen verbraucht. Er durchgeht auch Zustände der Entbehrung, der Gebundenheit, die aber wieder, recht gebraucht, nur Übergangsperioden zu neuer Tätigkeit und zu höheren Entwicklungen sind. Die geistige Abspannung des Greisenalters findet hierin auch eine tröstliche Erklärung.

Je mehr normale Metamorphosen ein Organismus durchgeht, je vollkommener ist er. Dasselbe gilt auch vom Geiste. Bei jeder neuen Entfaltung des geistigen Lebens soll auch noch das anhängende Selbstische als Entwicklungsmoment abgestreift werden. So wird das scheinbar Verlorene auf höhere Weise wieder gewonnen.

Sofern in jeder Entwicklungsstufe etwas von der vollendeten Bildung schon enthalten ist, hat auch das Dasein auf jeder Stufe einen Zweck für sich. Aber das Ziel, zu dem die Entwicklungsstufen vorbereiten, enthält doch nur das allein wahre Resultat der einzelnen Daseinsformen. So hat auch das zeitliche Leben des Geistes und die verschiedenen Metamorphosen in denselben einen Zweck an sich, aber der ganze volle Zweck liegt doch am Ende des Weges, in dem vollendeten ewigen Sein des Geistes.


 

2. Von der Entwicklung und Wiederherstellung

der Menschen im Staate

 

Die bestimmte Gestaltung und Entwicklung freier Tätigkeit zu gemeinschaftlichen und gegenseitig sich ergänzenden Zwecken ist nur im Staate möglich. Er ist nicht ein Verein von Menschen, der durch die Willkür der einzelnen, durch einen sozialen Vertrag entstanden ist. Er entsteht vielmehr nach den allgemeinen Gesetzen der Entwicklung aus der Familie. Jedes Volk entwickelt sich aus einer unmittelbaren Einheit durch mancherlei Mittelstufen zu einer höheren vermittelten Gesamtheit. Die Familie wird zum Stamm, der Stamm zur Nation. Ein so naturgemäß entstandenes Volk, das nicht durch äußere und innere Kriege zerrüttet wird, bewahrt die Gewohnheiten und Einrichtungen des Familienlebens. Sie dienen ihm zu Gesetzen oder bilden den Grund derselben. In einer fortschreitenden Entwicklung geht diese unmittelbare Einheit und damit die patriarchalische Verfassung verloren oder modifiziert sich mannigfach. Das individuelle Leben der einzelnen tritt geschiedener hervor, wie aus dem gemeinsamen Keime die vielfach gestalteten Pflanzenteile. In dieser Entwicklungsperiode werden die Gesetze ausgebildet, welche die Sicherheit der Personen, des Eigentums, der freien Tätigkeit bezwecken. Der Staat erscheint nunmehr als eine Schutzanstalt für die Privatinteressen. Diese Periode des Strebens nach Unabhängigkeit der einzelnen im Staate gleicht der der mächtiger hervortretenden Selbstheit bei der Entwicklung des einzelnen. In beiden Fällen ist es ein notwendiges Moment der Evolution und wird nur durch die Fixierung dieses Strebens zum Übel, zur Anarchie. So geschieht es, daß bei zunehmender Sonderung und dem dadurch bedingten Streben nach individueller Unabhängigkeit die übermächtig werdenden Privatzwecke das gemeinsame Leben gefährden. Es entstehen dann meist die Kämpfe zwischen Ordnung und Freiheit, Erhaltung und Bewegung, woran sich die Völker oft Jahrhunderte lang abmühen.

Allein wie die erwachte Selbstheit und Selbständigkeit des einzelnen bei dem normalen Fortschreiten des Menschen zu einem Zustande führt, in dem Freiheit und Gehorsam sich einen, so führt auch die größere Selbständigkeit und freiere Entwicklung der Staatsbürger beim rechten Fortschreiten zu einer höheren Einheit, in welcher die Freiheit der einzelnen und die Macht des Ganzen sich gegenseitig ergänzen. Das Stehenbleiben und das Rückgehen ist beides unmöglich. Denn Evolution ist das allgemeine Lebensgesetz. Ein Volk kann nicht mehr zur patriarchalischen Unschuld zurückkehren. Es hat nur die Wahl zwischen Barbarei und Zivilisation.

In dem höher entwickelten Staate ist die größte Freiheit der einzelnen und die mannigfaltigste Entfaltung der Individuen und ihrer Tätigkeiten und Interessen mit der größten Macht und Einheit des Staates als Ganzem erzielt. So wird der Staat zu einem freien Organismus, wo das Leben des Ganzen mit dem der mannigfach gestalteten Organe und ihrer Funktionen im Einklang ist. Bei der Stufe der bürgerlichen Gesellschaft, wo das Streben nach individueller Entwicklung vorherrscht, wird die Freiheit zu oft bloß als Unabhängigkeit begriffen. Die Unabhängigkeit von dem Zwang, von der Gewalt ist aber nur die negative Seite der Freiheit. Diese muß sich im Volksgeiste wie im Individuum höher entwickeln und sich als produktive freie Tat in gemeinsamer Tätigkeit offenbaren. Im Staate bildet und veredelt diese die freien Verbindungen, die Familie, die Gemeinde, die Genossenschaft usw. Diese einende, verbindende und dadurch konstruierende Richtung der Freiheit sucht dann selbst, die allverbindende Macht des Staates zu befestigen, und die Macht findet in der positiven, die einzelnen zu gemeinsamen Zwecken einenden Freiheit sich selbst gestärkt. Die Freiheit erkennt die Ordnung, und diese die Freiheit als ihre Ergänzung an. So versöhnen sich die Gegensätze in der höheren Einheit, ohne daß der eine den anderen aufzuheben sucht. Die wahre Mitte liegt über den Gegensätzen, nicht zwischen ihnen.

Dieser Entwicklungsgang der einzelnen Völker, in welchem jeder Volksgeist aus einer unmittelbar gegebenen Einheit sich zu einer höheren, vermittelten, Freiheit und Ordnung organisch einenden fortschreiten soll, kann nun von innen oder von außen gestört werden. Ein Volk kann zu lange auf einer Entwicklungsstufe stehen bleiben, dann entsteht gehemmte Bildung, oder es kann voreilig eine neue erzwingen wollen, dann entsteht Entwicklungskrankheit. Da die Völker wie die einzelnen an der allgemeinen Schuld der Menschheit teilnehmen, so finden wir auch bei allen, daß sie zuweilen entweder stationär oder revolutionär waren und dadurch ihre normale Evolution hinderten.

Aber außer diesen Entwicklungsfehlern stören meist in ihren Folgen äußere oder innere Gewalt und Krieg die naturgemäße Entfaltung eines Volkes. Der Sieger macht den Besiegten und alle seine Nachkommen zu Sklaven, zu Hörigen, zu Schützlingen. Die Entwürdigung einzelner Stämme und Klassen trägt dabei oft eine ebenso große Schuld wie die mißbrauchte Gewalt des Siegers.

Der größere oder geringere Grad von Unnatur, in welche die meisten Völker geraten sind, bedarf nun ebenso der Regeneration, als dies bei dem einzelnen Menschen der Fall ist. Aber auch hier kann und soll dieselbe nicht zur ursprünglichen patriarchalischen Unschuld oder irgendeiner vergangenen Stufe zurückführen, sondern zu einer höheren Kultur, in welcher alle Kräfte des Menschen, die nur im gemeinsamen Leben, im Staate gedeihen können, entwickelt werden.

Auch hier ist die Entwicklung und die Regeneration von der Freiheit des Volksgeistes, aber zugleich von einer höheren Leitung abhängig. Es können z.B. in einem Volke viele häusliche Tugenden, persönliche Tapferkeit, viele wissenschaftliche Bestrebungen herrschen, wo ihm aber der Gemeingeist, die wahre politische Tugend fehlt, wird es als Volk keine große Rolle spielen, leicht dem äußeren Feind unterliegen oder durch innere Spaltungen seine Einheit und Kraft einbüßen.

Wie die Freiheit ist auch die höhere Leitung der Völker nicht zu verkennen. Manche barbarische Sitten und Gesetze herrschten überall, bevor das Christentum lauter als früher die allgemeine höhere und freie Natur des Menschen verkündete. Das Christentum hat stufenweise die Sklaven erst zu Hörigen und dann zu Freien gemacht. Es hat die wahre politische wie die sittliche Freiheit des einzelnen gefördert, wo es wahrhaft aufgenommen und nicht mißverstanden oder mißbraucht ward. In ihm liegt auch vor allem der Keim zur Regeneration unseres Staatenlebens.

Wie bei der Fortbildung finden auch bei der Wiederherstellung des sozialen Lebens Entwicklungsstufen statt, deren richtige Beurteilung den Wert des Gesetzgebers bestimmt. So schwinden z. B. die vorübergehenden Unterschiede der Geburt und des Vermögens in dem Maße, als die menschliche Würde höher geachtet wird als der bürgerliche Wert.

Wenn aber ein Volk eine Entwicklungsstufe verläßt, ohne daß eine höhere Stufe schon erreicht ist, dann treten transitorische Zustände ein, welche oft gefährliche Krisen im Leben der Nationen bilden. Die Regeneration des Volks bleibt die Aufgabe, die von dem Volksgeist beschleunigt, retardiert oder ganz vernachlässigt werden kann. Damit die historische Bestimmung der Menschheit selbst nicht dabei leide, so wird im letzteren Falle die Aufgabe eines Volkes, wenn auch in veränderter Gestalt, an ein anderes übertragen. Die Funktionen bleiben, aber die Organe wechseln.

 


 

3. Von der Entwicklung und Wiederherstellung

der Menschen in der Weltgeschichte

 

Betrachten wir nun die Menschheit im ganzen, und zwar in ihren höchsten Beziehungen, so lehrt uns die Geschichte, daß teils eine Entwicklung in der Erkenntnis und Realisierung ewiger Wahrheiten in der Menschheit stufenweise stattfand, teils aber diese Wahrheiten mannigfach getrübt und entstellt wurden, daß aber durch eine höhere Leitung und Offenbarung das Bewußtsein der Menschen von Gott und den göttlichen Dingen wiederhergestellt und zu einer höheren Stufe geführt wird.

Wie das Licht, das alle Menschen im angeborenen Gottesbewußtsein von innen erleuchtet, nie und nirgends erloschen ist, so ist das äußere Licht einer göttlichen Offenbarung, das durch alle religiösen Überlieferungen mehr oder minder hell durchleuchtet, nirgends zu verkennen. Bei einigen Völkern erscheint dies Licht als Morgenröte am heiteren Himmel, bei anderen von Nebeln und Wolken umdüstert. Der noch unentwickelte Monotheismus der alten Welt ist jene Morgenröte, ist die Wahrheit einer früheren Stufe des religiösen Bewußtseins, das im Christentum erst seinen vollen Inhalt findet. Der Pantheismus, Naturalismus und Polytheismus sind die Entstellung des Begriffs der Gottheit. Das Heidentum enthält die zerrissenen Glieder der Idee Gottes. Das Christentum ist zugleich die Erfüllung eines noch unentwickelten religiösen Bewußtseins und die Befreiung von der Finsternis, in welcher dasselbe versunken war, höhere Entwicklung und Wiederherstellung.

Sofern nun das Christentum selbst nicht allein eine göttliche Tat ist, sondern dasselbe auch von Menschen, und von Menschen aus verschiedenen Zeiten und Nationen, aufgenommen und assimiliert wird und in alle Zustände und Verhältnisse des Lebens eingeht, ist es ebenfalls den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Menschen unterworfen.

Es wird zunächst unmittelbar im Glauben aufgenommen. Die verschiedenen geistigen Richtungen des Menschen heben einzelne Seiten desselben vorzugsweise hervor, eignen sich seinen Inhalt als einen historisch beglaubigten, als einen durch den Verstand zu vermittelnden oder durch geistige Anschauung und Gefühl zu vernehmenden an. Der Autoritätsglaube, die Spekulation und die Mystik sehen dieselben Wahrheiten verschieden an. Was im unmittelbaren Glauben vereint war, wird in der Entwicklung durch die verschiedenen Seelenkräfte unterschieden. Bei dem getrübten Wahrheitssinne des Menschen erfolgt auch hier Scheidung statt Unterscheidung. Sekten erheben einzelne Momente der Wahrheit zur alleinigen Wahrheit, die Philosophie, die sich selbst in Stufen fortbewegt, kann die Wahrheiten der Vernunft mit denen der Offenbarung noch nicht in Einklang bringen, die höchsten Wahrheiten werden auf der einen Seite ohne Geist aufgefaßt, darum von der anderen verkannt. Der Autoritätsglaube petrifiziert, die Spekulation verliert sich in Skeptizismus, eine tiefere Mystik macht einer sentimentalen Gefühlsreligion Platz.

Aber die göttliche Ordnung ist mächtiger als der menschliche Irrtum. Was aus der Einheit hervorgegangen ist, muß auch wieder nach allen durchgangenen Entwicklungsstufen und nach Überwindung aller Irrtümer zur Einheit zurückkehren, aber zu einer höheren Einheit, in welcher alle Resultate des Entwicklungs- und Regenerationsprozesses der Menschheit enthalten sein werden. Vor Gott aber sind tausend Jahre wie ein Tag. Der göttliche Weltplan bleibt unabänderlich, aber die Zeit, ihn zu realisieren, ist den in der Zeit Lebenden anheimgegeben.

So wiederholen sich die Gesetze der Weltordnung durch alle Regionen des Daseins. Aus der Ewigkeit gingen die endlichen Geister durch göttliches Geheiß unentwickelt hervor, um in der Zeit durch ihre Freiheit entwickelt in die Ewigkeit zurückzugehen.

 


Johann Carl Passavant (1790-1857)
Von der Freiheit des Willens und dem Entwicklungsgesetze des Menschen.
Frankfurt 1835, Teil III


 

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