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						 aus Das grüne Gesicht  | 
				
						  
							Gustav Meyrink (Wien 1868-1932 Starnberg)  | 
				
Ein Jahrtausend und länger noch haben die Menschen gelernt, das
						Gesetz der Natur zu durchschauen und sie sich dienstbar zu machen.
						Wohl denen, die den Sinn dieser Arbeit erfaßt und begriffen haben,
						daß das Gesetz des Innern dasselbe wie das des Äußern ist, nur
						um eine Oktave höher: sie sind zur Ernte berufen, - die andern
						bleiben ackernde Knechte, das Antlitz zur Erde gebeugt.Der Schlüssel
						zur Macht über die innere Natur ist verrostet seit der Sintflut.
						Er heißt: - Wachsein.Wachsein ist alles. Von nichts ist der Mensch
						so fest überzeugt, wie davon, daß er wach sei; dennoch ist er
						in Wirklichkeit in einem Netz gefangen, das er sich selbst aus
						Schlaf und Traum gewebt hat. Je dichter dieses Netz, desto mächtiger
						herrscht der Schlaf; die darein verstrickt sind, das sind die
						Schlafenden, die durchs Leben gehen wie Herdenvieh zur Schlachtbank,
						stumpf, gleichgültig und gedankenlos.Die Träumenden unter ihnen
						sehen durch die Maschen eine vergitterte Welt, - sie erblicken
						nur irreführende Ausschnitte, richten ihr Handeln darnach ein
						und wissen nicht, daß diese Bilder bloß sinnloses Stückwerk eines
						gewaltigen Ganzen sind. Diese »Träumer« sind nicht, wie du vielleicht
						glaubst, die Phantasten und Dichter - es sind die Regsamen, die
						Fleißigen, Ruhelosen der Erde, die vom Wahn des Tun's Zerfressenen;
						sie gleichen emsigen, häßlichen Käfern, die ein glattes Rohr emporklimmen,
						um von oben - hineinzufallen.Sie wähnen wach zu sein, aber das,
						was sie zu erleben glauben, ist in Wahrheit nur Traum, - genau
						vorausbestimmt im kleinsten Punkt und unbeeinflußbar von ihrem
						Willen. (...)  Wachsein ist alles.Sei wach bei allem, was du tust! Glaub nicht,
						daß du's schon bist. Nein, du schläfst und träumst.Stell dich
						fest hin, raff dich zusammen und zwing dich einen einzigen Augenblick
						nur zu dem körperdurchrieselnden Gefühl: »Jetzt bin ich wach!«Gelingt
						es dir, das zu empfinden, so erkennst du auch zugleich, daß der
						Zustand, in dem du dich soeben noch befunden hast, dagegen wie
						Betäubung und Schlaftrunkenheit erscheint.Das ist der erste zögernde
						Schritt zu einer langen, langen Wanderung von Knechttum zur Allmacht.Auf
						diese Art gehí vorwärts von Aufwachen zu Aufwachen.Es gibt keinen
						quälenden Gedanken, den du damit nicht bannen könntest; er bleibt
						zurück und kann nicht mehr zu dir empor; du reckst dich über ihn,
						so wie die Krone eines Baumes über die dürren Äste hinauswächst.Die
						Schmerzen fallen von dir ab wie welkes Laub, wenn du einmal so
						weit bist, daß jenes Wachsein auch deinen Körper ergreift.Die
						eiskalten Tauchbäder der Juden und Brahmanen, die Nachtwachen
						der Jünger Buddha's und der christlichen Asketen, die Foltern
						der indischen Fakire, um nicht einzuschlafen, - sie alle sind
						nichts anderes als erstarrte äußerliche Riten, die wie Säulentrümmer
						dem Suchenden verraten: Hier hat in grauer Vorzeit ein geheimnisvoller
						Tempel des Erwachenwollens gestanden. (...)  Auf dem Wege zum Erwachen wird der erste Feind, der sich dir entgegenstellt,
						dein eigener Körper sein. Bis zum ersten Hahnenschrei wird er
						mit dir kämpfen; erblickst du aber den Tag des ewigen Wachseins,
						der dich fernrückt von den Nachtwandlern, die da glauben, sie
						seien Menschen, und nicht wissen, daß die schlafende Götter sind,
						dann verschwindet für dich auch der Schlaf des Körpers und das
						Weltall ist dir untertan. (...)  Die Sehnsucht der Sterblichen, die Gestalten der Überirdischen
						zu schauen, ist ein Schrei, der auch die Phantome der Unterwelt
						weckt, weil eine solche Sehnsucht nicht rein ist - weil sie Habgier
						ist statt Sehnsucht, weil sie »nehmen« ist in irgendeiner Form,
						statt zu schreien, um das »geben« zu lernen. (...) Es ist heilsamer,
						aus eigenem Entschluß eine bittere Frucht zu pflücken, als auf
						fremden Rat eine süße auf dem Baume - hängen zu sehen. (...)  Um zu begreifen, daß du nicht dein Körper bist, wie die Menschen
						von sich wähnen, mußt du erkennen mit welchen Waffen er kämpft,
						um die Herrschaft über dich zu behaupten. (...)  Du glaubst, du schaffst Gedanken: nein, er schickt sie dir, damit
						du meinst, sie kämen von dir, und alles tust, was er will.Setz
						dich aufrecht hin und nimm dir vor, kein Glied zu rühren, mit
						keiner Wimper zu zucken und regungslos zu bleiben wie eine Bildsäule,
						und du wirst sehen, daß er haßentbrannt augenblicklich über dich
						herfällt und dich zwingen will, ihm wieder untertan zu sein. (...)
						Aber es steckt dabei noch eine List von ihm dahinter: er will
						dich glauben machen, daß hier, im äußeren Willen die Entscheidungsschlacht
						um das Szepter geschlagen wird; nein, es sind nur Scharmützel,
						die er dich, wenn's sein muß, gewinnen läßt, um dich dann umso
						tiefer unter's Joch zu beugen. Diejenigen, die solches Geplänkel
						gewinnen, werden die ärmsten Sklaven - sie dünken sich Sieger
						und tragen auf der Stirn das Schandmal: »Charakter«.Deinen Körper
						zu bändigen ist nicht der Zweck, den du verfolgst. Wenn du ihm
						verbietest, sich zu bewegen, so sollst du es nur deshalb tun,
						damit du die Kräfte kennen lernst, über die er gebietet. Es sind
						Heerscharen, fast unüberwindlich durch ihre Zahl. Er wird sie
						gegen dich in den Kampf schicken, eine nach der andern. (...)
						 Sie alle kannst du besiegen, - scheinbar durch den Willen - dennoch
						ist es nicht der Wille allein: es ist in Wahrheit bereits ein
						höheres Wachsein, das unsichtbar hinter ihm steht in der Tarnkappe.
						(...) Die nächsten Kämpfer, die dir dein Körper stellt, sind die
						ungreifbaren Fliegenschwärme der Gedanken. (...) Ihnen Stillhalten
						zu gebieten ist vergebens; nur ein einziges Mittel gibt es, ihnen
						zu entrinnen: die Flucht in ein höheres Wachsein. Wie du das zu
						beginnen hast, mußt du allein lernen. Es ist ein vorsichtiges,
						immerwährendes Tasten mit dem Gefühl und ein eiserner Entschluß
						zugleich. (...) Es braucht dir nicht zu gelingen, die Gedanken
						für immer zu bannen, - der Kampf mit ihnen dient nur dem einen
						Zweck: den Zustand höheren Wachseins zu erklimmen.
				
					 
			DAS LEBEN ist gnädig; jeden Augenblick schenkt es uns einen Anfang. Jede
						Sekunde drängt uns die Frage auf: Wer bin ich? - Wir stellen sie
						nicht; das ist der Grund, weshalb wir den Anfang nicht finden.
						(...) 
						 
				
Hermann-Bauer-Verlag,
				
					 
			
						 
				
							Das grüne Gesicht (1916) 
							
							Freiburg/B. 1963, S. 238-251 
			
			
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