MARIA CARLSON

'No Religion Higher Than Truth'.
A History of the Theosophical Movement in Russa, 1875-1922

Princeton University Press Princeton, N.J. 1993. 298 S. 14 Abb.

 

 

Manche Themenbereiche werden von der historischen Forschung immer noch vernachlässigt, weil ihre 'Irrationalität' die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung auszuschließen scheint. Dies gilt z. B. für Themen, die sich mit der geschichtlichen Bedeutung von 'okkultistischen' und 'esoterischen' Strömungen und Bewegungen beschäftigen. Dabei haben in jüngerer Zeit Untersuchungen von so bekannten britischen Historikern wie Dame Frances Yates, R.J.W. Evans und Peter French über rosenkreuzerische, alchymistische und magische Motive an den Höfen Ostmitteleuropas in der frühen Neuzeit verdeutlicht, daß dieser Faktor durchaus zu einer Neubewertung historischer Prozesse beitragen kann. Bezüglich Rußland wurde bislang lediglich der Freimaurerei größere Beachtung geschenkt (z. B. in den älteren Arbeiten von George Vernadsky und A. N. Pypin). Erst durch die Forschungen der Slavisten John Malmstad und Georges Nivat über das Werk Andrej Belyjs, die das Interesse am russischen Symbolismus neu entfacht haben, wurde deutlich, daß das Bild von Kultur und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland ohne Einbeziehung ihrer 'esoterischen' Elemente unvollständig bleiben muß, da sich ein großer Teil der Intelligencija in der einen oder anderen Weise mit entsprechenden Anschauungen intensiv auseinandersetzte.

Nun hat die an der University of Kansas tätige Slavistin Maria Carlson einen ersten, ebenso mutigen wie dankenswerten Versuch unternommen, diese Forschungslücke zu schließen. Die Verfasserin unterstreicht, welche gesellschaftlichen Ausmaße das Phänomen des Okkultismus vor 1914 angenommen hatte. Allein in St. Petersburg gab es 35 eingetragene sowie über hundert informelle okkulte Zirkel und Logen; zwischen 1881 und 1918 erschienen im Zarenreich mehr als dreißig okkultistische Periodika, von denen das älteste, 'Rebus', mit einem festen Abnehmerkreis von 6000 Abonnenten rechnen konnte (S. 5).

Maria Carlson stellt die Theosophie in einen historischen Kontext und skizziert eingangs die ältere okkultistische Tradition in Rußland; im übrigen beschränkt sie sich auf eine Darstellung von Geschichte und Wirkung der Theosophischen und der Anthroposophischen Bewegung. Letztere entstand, als sich ein Teil der deutschen Theosophen unter der Führung Rudolf Steiners 1913 anläßlich des Konflikts um die sog. 'Krischnamutri-Affäre' von ersterer trennte. Der Bruch zwischen den Vertretern einer theosophischen, mehr orientalisch ausgerichteten und einer anthroposophischen, stärker an christlich-abendländische Traditionen anknüpfenden Lehre hatte auch für Rußland Konsequenzen, da es sich nach der Vorstellung der Intelligencija ohnehin auf einer ost-westlichen Grenzscheide befand.

Das komplexe Lehrgebäude der Theosophie fand in Rußland starken Anklang, war es doch im wesentlichen aus dem Werk der Russin Elena Petrovna Blavatskaja hervorgegangen, die gemeinsam mit Henry Olcott 1875 in New York die "Theosophical Society" begründet hatte. Maria Carlson betont, daß die 'Gnosis' der Theosophie, welche die höhere Erkenntnis geistiger Welten und der göttlichen Weisheit (theou sophia) für sich beanspruchte, der 'gottsuchenden' russischen Intelligencija und ihrer Vorstellung der einen, allumfassenden istina (Wahrheit) stark entgegenkam. Auch Anhänger der Slavophilie konnten sich durch die theosophische Lehre bestätigt fühlen, denn darin wurde Rußland als Träger einer durchgeistigten Zukunftskultur beschrieben.

Die Verfasserin zeichnet nicht nur den Einfluß der Theosophie und Anthroposophie auf Leben und Werk von Künstlern wie A. Belyj, M. Volo¹in, K. Bal'mont, D. Mere¾kovskij, N. Berdjaev, V. Ivanov, A. Skrjabin oder V. Kandinskij nach, sondern beschreibt auch die rege Tätigkeit der Theosophen auf sozialem, pädagogischem und wirtschaftlichem Feld sowie die scharfe Reaktion von Vertretern der Orthodoxie angesichts der zunehmenden Popularität des 'neobuddhistischen' oder 'manichäisch-gnostischen' Gedankenguts. Carlson charakterisiert einige jener hochgebildeten, zu Unrecht vergessenen Frauen wie etwa A. A. Kamenskaja, M. von Strauch-Spettini, A. Minclova oder A. P. Filosofova, welche die Theosophie in Rußland in den philosophischen und literarischen Salons gesellschaftsfähig machten. Ferner schildert sie Verfolgung und Zerstörung der beiden Gesellschaften durch die Bol'¹eviki. Konnten vor allem die russischen Anthroposophen ihre Tätigkeit in den Jahren 1919-23 mit Hilfe von Einrichtungen wie der Vol'fila und der Vol'naja Filosofskaja Associacija noch erheblich verstärken, so hatten die Bol'¹eviki 1930 die meisten Angehörigen bereits isoliert, deportiert oder ermordet.

Weniger gelungen ist der an sich begrüßenswerte Versuch Maria Carlsons, dem Leser in komprimierter Form einen Überblick die "Theosophische Doktrin" (auf 14 Seiten) samt ihren "anthroposophischen Verfeinerungen" (auf 8 Seiten) zu geben. Hier unterlaufen der stets um Sachlichkeit bemühten Verfasserin, die bereits im Vorwort betont, sie sei "not ideologically committed to Theosophy or Anthroposophy" (S. 13), eine Reihe von terminologischen Ungenauigkeiten und inhaltlichen Fehlern. Beispielsweise sprach Rudolf Steiner niemals von einer "slavic folk soul", wohl aber einerseits von einer "russischen Volksseele" in transzendenter und andererseits vom "Slaventum" in herkömmlicher, sprachlich-ethnischer Bedeutung (S. 95); der ganze Abschnitt über "the Theosophical understanding of evil" beruht zur Gänze auf einer in sich widersprüchlichen Fehlinterpretation der angeführten Textbeispiele (S. 133-136).

Doch dies kann den Wert des Buches nicht schmälern. Der bescheiden vorgebrachten Absicht der Verfasserin, einen "context" und "groundwork for further research" zu leisten, wird diese reich bebilderte und dokumentierte Studie, die im Anhang eine 22seitige Bibliographie der zwischen 1881 und 1918 in Rußland veröffentlichten Werke theosophischen und verwandten Inhalts enthält, mehr als gerecht. Sie ist eine Fundgrube für alle, die sich mit dem verwirrend vielfältigen russischen Kultur- und Geistesleben vor der Oktoberrevolution beschäftigen, und bietet eine historische Orientierungshilfe für das in Rußland gegenwärtig wieder sprunghaft anwachsende Interesse an parapsychologischen bzw. 'okkulten' Phänomenen und Doktrinen.

Obwohl das Buch aus einem literaturgeschichtlichen Ansatz heraus verfaßt wurde, eröffnen sich auch dem Historiker weiterführende Perspektiven, die von Maria Carlson nur angedeutet werden konnten. So z. B. der ungeklärte Hintergrund des nach 1899 am Zarenhof tätigen französischen Okkultisten Papus (Gérard Encausse), der den für alles Mystische höchst empfänglichen Nikolaus II. auch im Sinne der französischen Diplomatie 'bearbeitete'. Oder die möglichen Auswirkungen von A. Lunaèarskijs Flirt mit der Theosophie auf die Entstehung der bolschewistischen Pädagogik. Schließlich auch das von Carlson knapp skizzierte Wirken des enigmatischen Nikolaj Roerich, einem Jünger der okkulten tibetanischen 'Meister', gemeinsam mit seiner Frau Elena Begründer der Agni Joga-Lehre sowie einer noch zu Sowjetzeiten einflußreichen Kulturstiftung, die 1987 unter maßgeblicher Unterstützung des Ehepaars Gorbaèev neu begründet wurde und im Februar 1992 sogar den Kulturbeauftragten der damaligen El'cin-Regierung stellte (S. J. ®itenev). Die vor kurzem nachgedruckten Werke des New Age-Guru Roerich, der u. a. mit Lenin und F. D. Roosevelt korrespondierte und für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, zeigen, daß er für die bolschewistische Machtergreifung in der russischen Öffentlichkeit mit dem 'esoterischen' Argument eintrat, "Mahatma Lenin" sei ein Gesandter der "Meister" in Tibet, der rechtmäßig in die "Mysterien des allumfassenden Wesens der Materie" eingeweiht wurde; diese müßten nun, so Roerich Mitte der zwanziger Jahre, in Rußland zur Offenbarung gelangen. (Vgl. Elena Rerich: Agni Joga. Tom III, Reprint Moskva 1990.)

Markus Osterrieder

 

 

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